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Kuchen, Kühe und ein Berglauf

2. Januar 2021

Anfang Juni 2020 wird nach den Frühjahrs-Laufveranstaltungen auch der für September geplante Jungfrau-Marathon wegen Corona abgesagt. Aber das Organisations-Team hat sich etwas einfallen lassen und bietet den „Jungfrau-Marathon Supporter Run“ an: Von Juni bis Oktober gibt es eine ausgeschilderte Strecke mit fest installierter Zeitmessung von Lauterbrunnen auf die Kleine Scheidegg. Es geht 9 Kilometer mit 1225 Höhenmetern den Berg hoch, zum Teil auf der Strecke vom Jungfrau-Marathon, zum Teil auf Wanderwegen, mit Startnummer und für jedes Tempo geeignet. Der Erlös geht an die vielen Vereine, die sonst helfen, den Jungfrau-Marathon auf die Beine zu stellen.

Das ist genau das Richtige für mich, denn es braucht kein so umfangreiches Training wie für einen Marathon und ins Berner Oberland wollte ich sowieso, nachdem der eigentlich geplante Ausflug an die Ostsee ebenfalls wegen Corona ausfällt. Ausserdem kann ich damit die Strecke vom Jungfrau-Marathon ausprobieren und schauen, ob ich als Höhenangsthase mir diesen in einem der nächsten Jahre zutrauen würde. Also schiebe ich Ferienwochen umher, reserviere mir für zwei Tage Anfang August ein schönes Hotelzimmer in der Nähe der Startlinie, und stürze mich begeistert ins Bergtraining. Die Bergbahnen dürfen inzwischen wieder fahren, und so kann ich unseren Hausberg am Jurasüdfuss nutzen: erst hochmarschieren, dann mit einer Gondel wieder runterfahren. Von oben hat man dazu eine herrliche Aussicht auf das Berner Oberland. Naja, bei gutem Wetter jedenfalls. Was nicht so oft vorkommt.

Anfang Juli passiert dann das, was nicht passieren sollte: Bei einem eigentlich völlig unspektakulärem Trainingslauf habe ich erst ein komisches Gefühl in der Wade, und ein paar Schritte später ist es dann schon zu spät: Muskelzerrung mit leichtem Muskelfaserriss. Fluchend humpele ich noch die drei Kilometer nach Hause und weiss schon, was mir der Physio mit strengem Blick später bestätigt: vier Wochen Laufpause und damit kein „Supporter Run“ wie geplant. Aber Wandern soll ja auch schön sein, und so entscheide ich mich, trotzdem zu fahren, behalte die Hotel-Reservierung und versuche, meine Wade mit den entsprechenden Übungen, leichtem Alternativtraining und gutem Zureden zur schnellen Heilung zu motivieren.

Anfang August kann ich zumindest wieder schmerzfrei gehen, und so packe ich die Wandersachen und fahre ins Berner Oberland. Es regnet, ich spaziere schlecht gelaunt erst durch Interlaken und dann an den vielen Wasserfällen vorbei durch das Lauterbrunnental, und die Murmeltiere gucken genauso unbegeistert wie ich. Zum Glück ist für die nächsten Tage besseres Wetter angesagt, und tatsächlich, am nächsten Morgen leuchtet die Sonne vom strahlend blauem Himmel. Nach dem Frühstück fahre ich daher mit der Gondelbahn hoch auf die Grütschalp und verbringe einen herrlichen Tag auf dem Mountain View Trail. Von dort aus kann man auch auf die Strecke vom „Supporter Run“ herunter­se­hen, und hui, das ist schon eine sehr lange Strecke, und alles nur bergauf… Und warum das Stück hoch nach Wengen „Die Wand“ genannt wird, verstehe ich dann jetzt auch.

Abends zurück im Hotelzimmer schaue ich mir die Karte, die Haltestellen und den Fahrplan der Wengernalpbahn an, und rechne und überlege, ob ich doch noch morgen vor dem Frühstück auf die Strecke gehen soll. Zumindest bis Wengen müsste ich es eigentlich schaffen. Vielleicht auch ein Stück weiter. Oder sogar ganz nach oben? Kurz denke ich darüber nach, mir doch noch die Startnummer abzuholen, aber dazu müsste ich mich nochmal aufstehen, und zudem halte ich es für eher unwahrscheinlich, dass ich es bis ins Ziel schaffe. Und ein DNF auf der Rangliste möchte ich keinesfalls. Meiner Wade geht es nach dem Wandertag aber immerhin erstaunlich gut, also packe ich meine Sachen zusammen und lege alles für eine frühe Wanderung parat.

Am nächsten Morgen stehe ich mit der beginnenden Dämmerung auf, esse eine Banane und einen Energieriegel, stelle meine Gepäcktasche an der Rezeption ab und schleiche mich mit Rucksack und Stöcken leise aus dem Hotel. Um Punkt 6 Uhr überquere ich die Startlinie, es geht über eine Brücke und dann raus aus dem Dorf hoch auf den Wanderweg nach Wengen. Steil. Und kurvig. Und immer weiter den Berg hoch. Was immerhin bedeutet, dass es sehr schnell sehr viel Aussicht gibt, wenn es schon höllenanstrengend ist. So bleibe ich immer mal wieder stehen, um zu gucken. Naja, und um nach Luft zu ringen. Nach gefühlt endlos vielen Kurven und noch mehr Kurven und zwei Eseln ist dann Wengen erreicht, und ich habe gar nicht so lange gebraucht wie gedacht. Also weiter, immer den blauen Wegweisern nach. Es bleibt steil, geht jetzt aber geradeaus den Weg hoch, entlang der Bahnstrecke und über eine Kuhweide, durch Wald und Wiesen und schliesslich vorbei an der Wengernalp.

Unterwegs bestaune ich immer wieder das eindrucksvolle Bergpanorama, wenn ich nicht gerade mit Atmen beschäftigt bin. Es fehlt inzwischen nur noch das letzte Stück bis zur Kleinen Scheidegg, ich habe immer noch ein bisschen Zeit, und jetzt will ich sowieso unbedingt bis ganz nach oben. Langsam kommt die Sonne hinter den Bergen hervor und bescheint die hochalpine Landschaft. Dann erreiche ich tatsächlich das Ziel, freue mich sehr und staune über die 2:16:00, die ich gebraucht habe. Da das Hotelfrühstück lockt, halte ich mich aber nicht lange oben auf, sondern steige in die wartende Bahn und lasse mich gemütlich wieder runterfahren. Pünktlich zur letzten Frühstücksrunde bin ich wieder im Hotel und erhole mich bei einer grösseren Menge Croissants mit hausgemachter Erdbeerkonfitüre, Birchermüesli, Obstsalat und heisser Schokolade. Morgenläufer:innen sind nicht ohne Grund in der Hotellerie sehr gefürchtet.

Schon auf der Zugfahrt nach Hause wurmt es mich dann aber natürlich sehr, dass ich keinen Ranglisteneintrag habe. Und so plane ich ein wenig hin und her, melde mich ein zweites Mal an und beschliesse, in drei bis vier Wochen nochmal einen Versuch zu starten. Bis dahin nutze ich jede freie Minute, um mich mit dem Rad den Jurasüdhang hochzukämpfen, zu schwimmen und langsam auch wieder ein wenig zu laufen. Weil mir die Wanderstöcke zu schwer für eine Tempowanderung und meine Walkingstöcke zu unhandlich für eine Bahnfahrt sind, bestelle ich mir ausserdem faltbare Trailrunning-Stöcke. Ausrüstung ist schliesslich alles! Und auch der hausgemachte „Tiroler Nusskuchen“ von unserem kleinen Bioladen schafft bestimmt eine gute Grundlage für einen Berglauf.

Ende August geht es dann so vorbereitet nochmal nach Lauterbrunnen. Es ist der vorerst letzte schöne und warme Tag, und ich nehme sehr früh am Morgen einen der ersten Züge, um trotz Anreise noch am Vormittag laufen zu können. In Interlaken mache ich Zwischenstation für Espresso, Gipfeli, Banane und Energieriegel, bevor mich die Zahnradbahn hoch nach Lauterbrunnen rumpelt. Am Bahnschalter hole ich mir die Startnummer und stelle mein Gepäck an der Hotelrezeption ab. Die nächste halbe Stunde verbringe ich mit Umziehen und Packen vom Laufrucksack, mit Sonnencreme und der Befestigung der Startnummer, und natürlich muss ich noch dreimal auf die Toilette. Dann aber mache ich mich kurz vor 10 Uhr endlich auf den Weg. Der freundliche Hotelchef wünscht mir noch viel Erfolg, draussen wärme ich mich ein paar Schritte auf und trappse dann sehr aufgeregt runter zum Start.

Dort kommt gerade ein Läuferpärchen um die Ecke. Ich freue mich, dass ich nicht alleine unterwegs bin, winke den beiden zu, höre das Piepsen der Zeiterfassung und dann geht es los, nochmal hoch auf den Berg. Ich versuche, mich so schnell wie möglich vorwärts zu bewegen, und trotzdem noch irgendwie Luft zu bekommen. Die Strecke ist immer noch sehr steil und immer noch sehr kurvig, und sehr schnell ist mir so heiss, dass ich auf den Weg tropfe. Es geht wieder an den beiden Eseln vorbei, durch Wengen durch, und schon längst hat mich der Läufer von dem Pärchen überholt.

Weiter geht es durch die blühenden Almwiesen. Die Wander:innen gucken amüsiert, wenn ich vorbeischnaufe, die Kühe wirken eher gelangweilt. Durch den späteren Start scheint diesmal die Sonne auf die Strecke, und das Panorama mit den schneebedeckten Viertausendern ist noch grossartiger als beim ersten Mal. Ich freue mich über ein paar wenige Meter, die ich laufen kann, und muss dann aber sehr schnell wieder aufs Marschieren wechseln, es ist einfach zu steil für mich. Das macht mich nicht sehr glücklich, ich komme mir fürchterlich langsam vor und allmählich befürchte ich, dass es für mein selbstgestecktes Zeitziel von unter zwei Stunden nicht reichen wird.

Hinter der Wengernalp überholt mich dann auch die Läuferin von dem Pärchen, das kurz nach mir gestartet ist. Ich versuche, an ihr dranzubleiben, muss sie aber dann schnell ziehen lassen. Immerhin bleibt sie in Sichtweite. Mir ist sehr, sehr heiss, und am liebsten würde ich mich jetzt irgendwo ins Gras legen und nicht mehr bewegen. Dann kommt von oben die Bahn angefahren, und ich rechne kurz und stelle fest, dass es doch noch etwas werden könnte mit dem Zeitziel. Also gebe ich nochmal alles, und endlich kommt das Ziel in Sicht, es piepst, der Blick auf die Uhr zeigt unfassbare 1:44:20, das Läuferpärchen gratuliert und ich lasse mich ins Gras fallen, strecke alles von mir und blinzle einfach nur noch in die Sonne und atme.

Nach einer ausgiebigen Ruhepause im Gras gehe ich dann die letzten Schritte hoch zur Kleinen Scheidegg, hole mir im Kiosk zwei Packungen Fruchtsaft und einen Schoko-Erdnuss-Riegel, inhaliere alles und so langsam geht es mir wieder gut. Also spaziere ich noch ein bisschen ziellos umher, entdecke weitere Läufer:innen vom „Supporter Run“, und gucke mir den Fallbodensee und die berühmten Moräne der Strecke vom Jungfrau-Marathon an. Nebendran stürzt gerade eine Lawine den Berg hinunter, und ja, der Weg auf der Moräne ist schon sehr schmal und kraxelig. Aber ich schaffe es heil ein Stück weit hinunter und auch wieder hinauf.

Zurück auf der Kleinen Scheidegg wandere ich dann weiter auf dem Panoramaweg hinüber zum Männlichen. Die Berge leuchten, überall sind Kuhglocken zu hören und es ist schon sehr schön hier oben. Natürlich muss ich dann auch noch zur Aussichtsplattform hochklettern, von der aus man die Juraberge sehen kann, auf denen ich sonst unterwegs bin. Runter geht es dann mit der Seilbahn nach Wengen. Und weil der Zug nach Lauterbrunnen erst ein bisschen später fährt und es in Bahnhofsnähe einen kleinen Laden gibt, finde ich noch heraus, dass in meinem Laufrucksack Platz für eine Melone ist. Später lege ich dann auf dem Balkon vom Hotelzimmer die müden Beine hoch, esse Melone und einiges mehr, und höre zufrieden und glücklich dem Fluss zu.

Danke an das Organisations-Team vom Jungfrau-Marathon für die tolle Aktion!

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